Predigt zum Buß- und Bettag 2022 - "Reue und Besinnung in Pandemiezeiten"

von Dr. Jürgen Rissland

 

Liebe Gemeinde, liebe Bärbel Ganster-Johnson, liebe Christiane Härtel (damit die Ideengeberinnen für den Umstand, dass ich heute vor Ihnen stehe, mal konkret benannt werden),

es gibt im Leben Premieren, z. B. der erste Kuss, die erste Freundin bzw. der erste Freund oder der erste Sterbefall im unmittelbaren Umfeld, usw. Alles das gab es auch bei mir und darüber hinaus dann auch noch das erste Interview mit einer Zeitung, mit einem Radiosender und schließlich das erste Mal im Fernsehen (wobei das bei mir das Frühstücksfernsehen bei dem Privatsender RTL war, da mein damaliger Chef in Köln für sich die „seriösen“ Medien wie z. B. den WDR reserviert hatte). Aber es hat fast 56 Jahre gedauert, bis ich das erste Mal vor einer Gemeinde stehen und eine Predigt unter dem Titel „Reue und Besinnung in Pandemiezeiten“ halten darf – sozusagen in dem Sinne: Alter schützt vor Premieren nicht.

Und das an einem Tag, der in der evangelischen Kirche eine besondere Bedeutung hat: Buß- und Bettag. Den älteren Gemeindemitgliedern wird es wahrscheinlich noch bewusst sein, dass der Anlass für diesen Tag Notzeiten waren. Angesichts von Notständen und Gefahren wurde die ganze Bevölkerung zu Umkehr und Gebet aufgerufen. Wobei hinter diesem Aufruf kein falsches Gottesbild steht: es geht nicht darum, einen strafenden Gott zu besänftigen oder ihn gar durch Umkehr und Gebet dazu zu bewegen, den Notstand und die Gefahr verschwinden zu lassen.

Vielmehr geht es darum, innere Einkehr zu halten, sich zu besinnen, eine kritische Lebensbilanz zu ziehen und sich dann entsprechend neu zu orientieren.

Was heißt das jetzt, wenn wir weiterhin die Coronapandemie erleben (mal abgesehen von dem Krieg in der Ukraine, der Erdgasproblematik, den gestiegenen Energiepreisen und dem Thema Klimawandel)?

Ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen, die auch Ihre Mitwirkung erfordert.

Angenommen, Sie wohnen in Deutschland und es ist (Pandemie-) Winter. Schmutziger Schnee liegt auf den Straßen. Sie sind gerade damit beschäftigt, die Windschutzscheibe Ihres Wagens freizukratzen. Der Wind bläst Ihnen die weggeschabten Eispartikel in Ihr Gesicht, Matsch füllt Ihre Schuhe. Ihre Fingerspitzen fühlen sich an, als wären Sie voller Nadeln. Mit einem Ruck gelingt es Ihnen, die gefrorene Tür Ihres Wagens zu öffnen. Sie setzen sich auf den Ledersitz, der sich wie ein Eisblock anfühlt, und legen Ihre Hände aufs tiefgefrorene Lenkrad. Weiß steht Ihnen der gefrorene Atem vor Ihrem Mund.

Frage: Wie viel glücklicher wären Sie, wenn Sie in Miami Beach wohnten – mit Sonne, 26 Grad, sanftem Meereswind? Geben Sie einen Wert zwischen 0 (um keinen Deut glücklicher) und 10 (unendlich viel glücklicher) an.

Die meisten Menschen, denen diese Frage gestellt wird, antworten mit einem Wert zwischen 4 und 6.

Sie haben nun ausgeparkt und nehmen den Weg zur Arbeit. Kurz darauf: Stau auf der Autobahn. Mit einer halben Stunde Verspätung erreichen Sie Ihren Arbeitsplatz. Dann die E-Mail-Flut und der übliche Ärger mit Ihrem Vorgesetzten. Nach der Arbeit erledigen Sie Ihren Wocheneinkauf. Zu Hause kochen Sie Ihr Lieblingsgericht (es schmeckt herrlich), machen es sich auf dem Sofa bequem, schauen sich einen spannenden Film an und legen sich schlafen.

Dito in Florida: Sie fahren los, Stau auf der Autobahn, dann die E-Mails und der übliche Ärger mit dem Vorgesetzten, Wocheneinkauf, leckeres Essen, spannender Film.

Jetzt noch einmal die Frage: Wie viel glücklicher wären Sie, wenn Sie in Miami Beach wohnten?

Die meisten Menschen geben jetzt noch einen Wert zwischen 0 und 2 an.

Das ist die „Fokussierungsillusion“.

Je stärker wir uns auf einen bestimmten Aspekt unseres Lebens konzentrieren, desto bedeutender schätzen wir den Einfluss dieses Aspektes auf unser ganzes Leben ein. Zu Beginn konzentrieren wir uns bei der Beschreibung ausschließlich auf das Wetter – Eis in Deutschland, Sonne in Miami. Dieser eine Aspekt dominierte, als wir die Lebenszufriedenheit in Deutschland gegenüber jener in Miami einschätzten.

Danach skizzierten wir einen ganzen Tagesablauf – von der morgendlichen Fahrt zur Arbeit bis zum gemütlichen Abend auf dem Sofa. Das Wetter machte nur noch einen Teilaspekt dieses Tages aus. Betrachten wir längere Zeiträume – eine Woche, einen Monat, ein Jahr, ein ganzes Leben -, dann ist das Klima plötzlich ein vernachlässigbarer Aspekt der Lebenszufriedenheit.

(Quelle: Die Fokussierungsillusion – Warum Sie in der Karibik nicht glücklicher wären
In: Rolf Dobelli – Die Kunst des guten Lebens)

Was hat die Fokussierungsillusion mit unserer aktuellen Realität zu tun? Umfragen hier im Saarland besagen, dass 3 von 4 Befragten die Coronapandemie leid sind. (Wenn Sie unsere Mitarbeiter im Institut oder am UKS befragen würden, wären es 4 von 4!). Außerdem sagt nur jeder Zweite der Befragten, dass er oder sie sich bei zukünftigen Coronawellen noch einmal impfen lassen würden. Zudem ist eine große Mehrheit der Meinung, dass die Pandemie und die ergriffenen Maßnahmen zu einer Spaltung der Gesellschaft beigetragen haben. Und die Entscheidungen der Politik in der Coronazeit werden rückwirkend nur noch von 27% der Befragten als angemessen bewertet.

Ist das also so? Haben die Pandemie und die Maßnahmen unsere Gesellschaft gespalten? Oder erliegen wir Menschen bei solchen Befragungen einer Fokussierungsillusion, weil wir uns nur auf die empfundenen Nachteile der Pandemie konzentrieren (nämlich die Maßnahmen wie Lockdown mit Einschränkungen der persönlichen Freiheiten oder den Umgang mit den Impfungen – zu neuer Impfstoff, zu viele Nebenwirkungen, zu viele Impfdosen für Schutzwirkung, zu wenig Impfstoff mit der Notwendigkeit von Priorisierungen) und die mit dem Management der Pandemie verbundenen Vorteile (wie z. B. die Verhinderung von zigtausenden schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen, Aufrechterhaltung der Versorgungskapazität in Arztpraxen und Krankenhäusern) nicht mehr (oder nur verzerrt) wahrnehmen?

Damit wären wir bei einem zentralen Anliegen des Buß- und Bettages, nämlich bei dem Nachdenken über gesellschaftliche Irrtümer. Ich will nicht falsch verstanden werden: mir geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern um die Möglichkeit einer Besinnung und Neuorientierung am heutigen Tag. Sozusagen eine Art „Neustart“ unseres geistigen Betriebssystems, um die Welt auch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Meine Frage an Sie ist: haben wir denn angesichts der Pandemie nicht auch Anlass für Dankbarkeit, dass es Menschen gibt, die vor dem Hintergrund von viel Unsicherheit (und da schließe ich uns Mediziner, Virologen und Seuchenmanager explizit ein) Entscheidungen treffen (müssen), getragen von dem Wunsch, möglichst viel Gutes und möglichst wenig Schaden zu bewirken?

Der zweite Impuls, den ich hier und heute gerne vorbringen möchte, hat seinen Ausgangspunkt in der Geschichte der „Heilung eines Gelähmten“, die sich im Markusevangelium findet. Sie kennen die Stelle sicherlich: Jesus ist in Kafarnaum, es versammeln sich viele Leute, die ihn hören wollen, und den vier Gefährten, die einen Gelähmten zu Jesus bringen wollen, bleibt nichts Anderes übrig, als das Dach abzudecken und den Gelähmten auf seiner Liege durch die Öffnung hinabzulassen. So weit, so wirksam, um die Aufmerksamkeit von Jesus zu erlangen. Er aber sagt zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben! Das führt zu theologischen Auseinandersetzungen mit den Schriftgelehrten vor Ort und zu einer Machtdemonstration von Jesus, der den Gelähmten mit den Worten heilt „Steh auf, nimm deine Liege und geh nach Hause!“ – was der Mann zur Überraschung aller Anwesenden auch sofort tut.

Mir geht es hier nicht um den Aspekt der Heilung und des damit verbundenen Machtwortes. Ich beziehe mich auf den Satz von Jesus: Deine Sünden sind Dir vergeben. Ich frage mich: was will Jesus damit zum Ausdruck bringen? Etwa einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde? Falls ja: hat die Pandemie etwas mit dem Fehlverhalten einiger oder sogar vieler Menschen zu tun?

Die Auffassung, dass sich das Verhalten eines Menschen in seinem körperlich sichtbaren Leiden spiegelt, war im Alten Orient verbreitet, und sie findet sich auch im Alten Testament: „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe wegen deines Drohens und nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde“ (Ps 38, 4). Im Neuen Testament wird die religiöse Deutung von Krankheit dagegen explizit abgelehnt: Nach dem Johannesevangelium hat Jesus der Deutung von Krankheit als Sündenfolge ausdrücklich widersprochen. Als er angesichts eines blind Geborenen gefragt wird: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“, antwortet er: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes an ihm offenbar werden“ (Joh 9, 2f.).

Im Gefolge der antiken und der modernen naturwissenschaftlichen Medizin lassen sich Krankheiten als natürliche Prozesse innerhalb der Schöpfung verstehen, die aber – wie die Krankenheilungen Jesu verdeutlichen – gerade nicht dem Willen des Schöpfers entsprechen. Gerade die ärztliche Zuwendung Jesu zu den Kranken verdeutlicht, dass im Kampf gegen die Krankheit Gott nicht strafend auf Seite der Krankheit, sondern zuwendend auf Seite des Kranken steht.

Auch das ist ein wichtiger Perspektivwechsel: Gott hat die Corona-Pandemie nicht auf die Erde kommen lassen, um uns zu strafen. Sondern er steht uns bei, auch wenn der „natürliche Prozess“ einer Pandemie (die Worte „natürlicher Prozess“ gehen einem nicht einfach über die Lippen) uns als Gesellschaft und Individuen viele Härten (und teilweise großes Leid) auferlegt haben.

Meine professionellen Mentorinnen (unsere beiden Pfarrerinnen) haben mir gesagt, dass die beste Predigt nichts taugt, wenn sie zu lang wird. Daher möchte ich Sie zum Schluss anlässlich des heutigen Buß- und Bettages nur noch einmal motivieren, diesen Perspektivwechsel, den ich Ihnen an zwei Beispielen versucht habe zu erläutern, vorzunehmen oder zumindest sich darauf einzulassen. Quasi im Sinne eines Gedankenexperimentes, und damit als Teil des Neustarts in unserem „geistigen“ Betriebssystems. Und nicht nur, um der empfundenen Spaltung der Gesellschaft entgegenzutreten und Versöhnung zum Maßstab unseres Handelns zu machen. Sondern auch, um sich selbst zu prüfen und die eigenen Versäumnisse und Fehlentscheidungen im Gebet vor Gott zu bringen.

Reue und Besinnung in Pandemiezeiten! (Das war mein Titel für diese Predigt.) Damit ein neuer Anfang möglich wird! (das ist mein Fazit.)

Amen!